Warten, 120×190, Öl auf Leinwand, 2017

Gaby Kutz verwendet wie bei „Überfahrt“ die Idee der Vervierfachung eines Bildes auf einer Leinwand. Wieder gibt es ein chamoisfarbenes Bild und drei mehrfarbige Ausführungen, diese vier sind wie bei „Überfahrt“ angeordnet (jeweils zweifach über- und nebeneinander. Das erste Bildfeld oben links ist in Schwarzweiß gehalten, d.h. tatsächlich in Chamois abgetönter Manier, als sei ein älteres Foto hier Vorlage gewesen).
Zwar sind auf dem Bild Details wenig gut zu erkennen, und doch wird deutlich, es zeigt eine typische Situation auf der sogenannten Balkanroute. Die dargestellte Szene fand statt im August 2015 an der Bahnlinie Athen-Belgrad in der mazedonischen Grenzstadt Idomeni-Gevgelija. An einem kleinen Bahnhof warten viele dutzende Menschen auf die Gelegenheit, ihre Flucht fortsetzen zu können. Sie belagern den Bahnsteig aber auch den Bereich zwischen den Gleisen. Die meisten von ihnen sitzen, sie versuchen sich von den Strapazen der Flucht etwas auszuruhen, denn diese muss über große Strecken auch zu Fuß zu bewältigt werden. Womöglich ist es sehr warm, im Vordergrund sieht man einen stehenden Mann im Unterhemd.
Wie bei „Überfahrt“ wirken die Strukturen unruhig und durcheinandergeworfen, jeansblaue und blutrote Flecken unterstützen diese Wirkung. Das sind die Kleidungsstücke, die die Menschen tragen. Zwischen den Gleisen in Chamoistönen sind wieder Flecken zu sehen, ist das etwa Müll? Die Presse berichtete damals, dass Bagger bei Gevgelija den Müll im Niemandsland zwischen Griechenland und Mazedonien umpflügten. Müll und viele Dinge, die Flüchtlinge zurückgelassen haben, weil sie auf ihrem weiteren Weg – ihr nacktes Leben rettend – nicht alles bewältigen konnten.
In dem Menschengewirr sind vor allem diese im Vordergrund gut zu erkennen, wie sie sitzend und stehend warten. Aber sie werden von Kutz gesichtslos gezeigt. Ihre Darstellung steht stellvertretend für tausende geflüchtete Menschen, Männer, Frauen, Kinder.

Der Betrachter der Szene befindet sich unter ihnen, auch zwischen den Gleisen, die rechts und links von ihm verlaufen. Man schaut – ebenso wie der stehende Mann ganz vorne im weißen Unterhemd – bis zum Horizont, wo sich die Gleise optisch zu treffen scheinen.
Seit der Renaissance spricht man beim Zeichnen dieses Phänomens von der Zentralprojektion: die Bilder von Geraden, die in der Realität parallel zueinander verlaufen, verhalten sich aber in einer perspektivischen zweidimensionalen Darstellung nicht parallel zueinander. Sie enden in der Ferne in einem gemeinsamen ‚Fluchtpunkt‘. Dieser liegt weit außerhalb des Bildes, im ‚Unendlichen‘.
Das Wort ‚Fluchtpunkt‘ wird hier doppeldeutig und auch übertragbar auf den von Gaby Kutz gezeigten Ort. Idomeni-Gevgelija war ein Brennpunkt der Flüchtlingsereignisse 2015/16 auf der Westbalkanroute. Sehr viele Menschen mussten am Grenzübergang warten.
Die mazedonische Polizei war mit den Menschenmassen im Sommer überfordert. Regelmäßig kam es zu gewalttätigen Szenen in Gevgelija. Angesichts des Ansturms der Flüchtlinge hat am 24.8.2015 Mazedonien die Blockade seiner Grenze zu Griechenland aufgegeben. Die Migranten, viele auf dem Weg nach Deutschland, wurden nach Serbien durchgeleitet. Doch weiterhin glich die Stadt Gevgelija einem Flüchtlingslager.
Das sich nahe dort befindende Flüchtlingslager Idomeni wurde mit vielen tausend campierenden Menschen zum Inbegriff der katastrophalen Verhältnisse dieser Zeit der Flüchtlingsströme.
In der weiten Ferne, etwa in Deutschland – auch hier liegt der ‚Fluchtpunkt‘ fast im Unendlichen -glauben die Geflüchteten einen sicheren Ort für ihre Familien und sich zu finden.