Prof Dr. Günther Zehnder

Auszüge der Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Spurensicherung“ in der Thomas-Morus-Akademie

Kein Mensch kann nur im Hier und in der Perspektive auf das Morgen leben. Ohne Erinnerung sind wir, sind unsere Gefühle, ist unsere Seele Fragment. Erinnerungen haben mit Bindungen zu tun, die wir hatten, die wir eingegangen sind und auch solchen, die wir beibehalten haben. Sie haben auch mit Identität und Suche nach Identität zu tun.

Gaby Kutz findet in den tradierten Fotoalben ein reiches Reservoir für bildnerische Umsetzungen, sie scheut sich nicht vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, mit der Familie und mit ihrem Bild. Die Gemälde spiegeln die Topoi der Amateurfotografie der fünfziger und sechziger Jahre. Nicht nur die Kleidung, nicht nur das häusliche Ambiente, sondern auch die Posen, die Kompositionen verraten die direkten Grundlagen dieser Malereien. Schwarz-Weiß ist diese Welt und gelegentlich auch Chamois. Jeder von uns wird solche Bilder in seinen Alben haben. Da ist das Porträt des fröhlich in den Apparat und wie man so schön sagt – „in sein Leben“ lachenden Jungen, da ist Alex beim Auspusten der Weihnachtskerzen, da steht die Familie hierarchisch aufgereiht draußen auf der Terrasse, da gibt es die seit gut einem Jahrhundert trainierten Posen der Dreier-, Zweier- und Reihengruppen. So schließt sich manchmal die Klammer: So zum Beispiel führt von jenem Bild, das Vater und Oma spazierengehend mit der Kleinen draußen in der Landschaft zeigt, eine Kette von Traditionen zurück bis zu Spitzwegs biedermeierlichen Spaziergangs- und Hagestolzbildern.

Da ist eine Erinnerung an einen Besuch in der Flora im Jahre 1965, da gibt es ein sogenanntes Bewegungsbild im Schwimmbad mit Spielzeug und Gummiente, da reihen sich die fein angezogenen Kinder am Außenkamin der Terrasse auf, da gibt es ein farbiges, gleichwohl statisches Bild von Kundin und Verkäuferin im Spielzeugladen. Bewegungslos posieren sie vor der Kamera, als gelte es die Erinnerung an ein blühendes Geschäft für alle Zeiten einzufrieren. Obwohl leblos scheinend, ist es Bild vom wahren Leben.

Schon eingebunden: Und schließlich das geschlossene farbige Bild, das den Vater vor dem erlegten Hirsch zeigt. Im Vordergrund das Tier, dessen Geweih so fotografiert und schließlich auch gemalt wurde, dass es das Bild des Vaters in einem Kreis einzuschließen schient. Dieser wird in der Vertikalen durch Baum und Mauer hinter ihm besonders betont und hält in der Hand die letzte Äsung für das erlegte Wild. Das Bild ist von großer Geschlossenheit, es arbeitet mit warmen Tönen und mit einer valeurreichen Koloratur, es setzt Trophäe und liebevolle Erinnerung, Nähe und Distanz in einen spannungsvollen Bildzusammenhang. Zwar ist auch die Körperhaltung des Jägers angedeutet, doch liegt die bildnerische Betonung eindeutig auf dem Brustbild, einem Porträittyp, der sich seit dem 16. Jahrhundert in der Malerei behauptet.

So wie sich unsere Erinnerung über längere Zeiträume verändert, wie sie unpräzise wird, verschönert oder verfälscht, so lehren uns diese Bilder, dass sie eigentlich nur Anhaltspunkte sind für eigene Erinnerungen, für die Ergänzung und vor allem für die Gedächtnisauseinandersetzung mit den Ereignissen sein können. Wichtige Stationen des Kinderlebens begleiten uns in den Fotoalben durchs Leben: Die vor einem Baum in Zentralkomposition aufgebauten Kinder im Park, nach dem Motto: „Stellt euch mal eben dahin“, der 1. Schultag, meine Schulklasse, auf dem Spielplatz, oder ein Ausflug mit dem neuen Auto, all diese Bilder rufen Erinnerungen wach, aber überlassen die Präzisierung anderen mitwirkenden Kräften. So sind die Gesichter in der Regel farblich und malerisch „neutralisiert“, zeigen sie keine individuellen Physiognomien, sind sie gewissermaßen gültig für jedermann und jederfrau, sind austauschbar.

Es sind gewissermaßen Allerweltserinnerungen, weil wir auch vieles so erlebt haben, wie es tausend andere zur gleichen Zeit an anderen Orten auch taten. Und doch bleibt das ganz Persönliche virulent. So stoßen diese Bilder das persönliche Gedächtnis der Malerin ebenso an wie das unsrige. So kann das Schwarzweiß-Bild mit der autobiografischen Mitteilung von Gaby Kutz im Pferdestall – sie war ja einmal professionelle Rennreiterin – nicht nur etwas zur Lebenssituation der Künstlerin aussagen, sondern zugleich uns alle an unseren ersten Berufstag, an Ausbildungswege, an lästigen Stalldienst und romantische Reiterträume, an ähnliche autobiografische Ortungen erinnern.

Damit gewinnen diese unscharfen Bilder eine allgemeingültige Präzision, die über Zufälliges hinausgeht. Denn bei aller Individualität, auf die wir uns so viel einbilden, laufen Lebenswege doch parallel und allzu oft schematisch ab.

Die Künstlerin Gaby Kutz geht auf sehr persönliche und individuelle Weise mit Tradition und Zustrom um. Die Motive, manche Formalien und die Technik schöpft sie aus der Konvention, bleibt aber nicht dabeistehen. Vielmehr verbindet sie einen traditionellen Bild- und Formenkanon mit ihrer eigenen, unverwechselbaren Handschrift und fügt die Dinge nicht nach der Wirklichkeit ins Bild, sondern kompiliert und kombiniert, konstruiert und konjugiert.

Erinnerungsspeicher: Das Bild ist noch nicht auf der Website

(Noch nicht zuordnen, Bildkontext fehlt) Wir befinden uns hier in einem Quadratverhältnis von Realismus, Surrealismus, Neuer Sachlichkeit und abstrahierenden Elementen. Das pointierte Darstellen von Menschen und Situationen war ja schon eines der Hauptanliegen der Neuen Sachlichkeit in den 1920er Jahren. Dieses typische Bild von Otto Dix „Nelly mit Blumen“, 1925, vergleichen wir einen Moment mit einer ähnlichen Situation aus dem Zyklus von Gaby Kutz. Wsa bei DIX exakt und fein, präzise und fast hyperrealistisch dargestellt ist, wird bei Gaby Kutz in Valeurs ausgedrückt und durch „Verwischung“ neutralisiert. […]

So bieten die Arbeiten von Gaby Kutz ein weites Feld zur Identifikation für andere, so ist ihre Malerei ein farblich ästhetischer Vorgang, der Atmosphäre und Stimmung vermittelt. Vermischung des Gegenständlichen ist eben nicht Verzerrung von Wirklichkeit.

Die Kunstsprache der Künstlerin benutzt die Fotografie – ein Medium der scheinbar wahrhaftigen Übermittlung von Aussehen und Ereignissen – als Grundlage für ihre malerischen Umsetzungen. Sie übermalt keine Fotografie, sie denkt mit ihnen, sie verfremdet sie und schafft malerische Analogien zu ihnen. Dadurch unterscheidet sie sich deutlich vom sogenannten Fotorealismus, der vor allem mit der Popart der späten 1960er und frühen 1970er eine neue Welle der Wirklichkeitsübertragung im Bilde einleitete. Im Fotorealismus verbindet sich das populäre und demokratische Medium Fotografie mit der aristokratischen Malerei. Diese Stilsprache berührt Gaby Kutz mit ihrer Malerei am Rande, sie geht andere Wege der Übernahme und sie hat ein anderes Anliegen.

(Bereits eingebunden, zu überlegen ist, ob Bild und Text anderswo erscheinen können, jetzt auf Spurensicherung) In diesem Zusammenhang muss man noch auf ein Männerbildnis von Gaby Kutz hinweisen. Dieses – gewissermaßen als Ereignisbild formulierte Portrait – zeigt vor einem Ambiente den sonnenbestrahlten Kopf eines Augen zukneifenden Mannes. Man ahnt das Foto, das dahintersteht. Dennoch weicht dieses Bild von der gewohnten Formsprache der Künstlerin ab. Es ist ein relativ scharfes Bild, das eine skeptische Energie und Kraft ausdrückt. Der ungewöhnliche Bildtypus, der ohne Pose und Sitzung entstand, findet Vorgänger und Parallelen in der Kunst des 20. Jahrhunderts bis heute. Als Beispiel mag das Bild von Otto Dix „Martha Dix“ 1928, dienen, das ebenfalls keine künstliche Position, sondern eine Haltung mitten im Leben wiedergibt.

Gaby Kutz befasst sich mit ihrem gesamten Schaffen der sogenannten Spurensicherung. Diese ebenfalls seit den frühen 1970er Jahren lebendige Kunstform verfolgt Spuren des Lebens und des Todes, der Menschen und der Dinge, der Zeiten und der Veränderungen. So wie das Objekt „Für die Geschwister Götte“ von Nikolaus Lang, haben viele Künstler gewissermaßen Reihenuntersuchungen und Sammelbestände zu Ausschnitten der Menschheitsgeschichte zusammengetragen. Es gilt diesen Künstlerinnen und Künstlern festzuhalten, was vergänglich ist, im Vorgriff auf das Museum etwa schon Archivierungsmethoden in künstlerischer und archivarischer Hinsicht auszuprobieren und damit Tradition in die nächsten Generationen weiterzuführen.

Es sind Übungen gegen die Vergesslichkeit, gegen die Flüchtigkeit und Aufforderungen, dass Alltägliche nicht alltäglich zu betrachten, sondern die Wahrnehmung im besten Sinne des Wortes zu schärfen. Das betrifft sowohl den Alltag wie den Kult, den Menschen wie die Umwelt. Die Bilder von Gaby Kutz sind lesbar, obwohl sie mit abstrakten Metaphern und Formengut umgehen, sie siedeln zwischen Realität und Vorstellung, und sie wirken nachhaltig auf uns.