"Überfahrt"

Überfahrt, Öl auf Leinwand, 160×200, 2016
Das Ölgemälde „Überfahrt“ gehört zu Gaby Kutz‘ Bildserie „Flucht“(Arbeitstitel), die sich mit der Flüchtlingsproblematik der letzten Jahre beschäftigt
Die Künstlerin vervierfacht hier ein Motiv auf einer großformatigen Leinwand. Diese Darstellungen ordnet sie jeweils zweifach über- und nebeneinander an. Das erste Bildfeld oben links ist in Schwarzweiß gehalten, beziehungsweise tatsächlich in Chamois abgetönter Manier, als sei ein älteres Foto hier Vorlage gewesen. Die harten Farben Schwarz und Weiß wurden gar nicht verwendet.
Das stark abstrahierte Motiv ist schwer zu entschlüsseln. Abstrakte unregelmäßige Formen bilden einen Haufen Gewirr. Die anderen drei farbigen Fassungen weisen die gleichen Strukturen auf wie das ‚schwarzweiße‘ Bild. Sie ähneln einander sehr, scheinen quasi identisch. Diese Darstellungen helfen beim Entschlüsseln. Ist es Müll, sind dort Wäscheberge gezeigt? Sind Menschen erkennbar? (Sind es Menschen auf einem Festival?)
Der Titel des Gemäldes „Überfahrt“ führt dem Betrachter die Pressefotos zu den vielfach stattgefundenen Flüchtlingsdramen vor Augen, die seit spätestens 2015 über alle Medien einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden.
Auf dem Bild glaubt man dichtgedrängt liegende Menschen zu erkennen. Was war geschehen? Was passiert dort jetzt? Wir können es kaum erkennen, wir suchen Anhaltspunkte… Hier zwingt Gaby Kutz den Betrachter hinzuschauen und mit seiner Suche nicht nachzulassen. Man fahndet auf den vier sich gleichenden Bildfeldern und kann nicht nachlassen das zu tun, man wird gefesselt bis zum Erkenntnisgewinn. Die Menschen sind hier sehr dicht zusammengedrängt, zusammengepfercht. Sie liegen. Wie Tiere. Festgesetzt. Es wimmelt da von Formen, Kleidungsstücken, Körpern und Gliedmaßen. 

Ankunft, 30×130, Öl auf Leinwand, 2016

Gaby Kutz fertigt für dieses Gemälde ein Bild dreifach aus und reiht es hierzu nebeneinander auf die Leinwand zu einem extremen Querformat. Die dargestellte Szene scheint auf den ersten Blick eine idyllische Situation am sonnigen Strand zu sein. In warmes Licht getaucht liegen und sitzen Menschen in Badekleidung am Strand, es sind wohl Touristinnen. Die hintere Bildhälfte gibt den Blick frei aufs Meer. Dort sieht man ein mit Menschen besetztes Schlauchboot und daneben befinden sich weitere Menschen im Wasser.
Die Frauen am Strand beachten die Menschen im Wasser und auf dem Boot gar nicht. Eine liegende Frau döst, die Sitzende blickt in eine andere Richtung.
Tatsächlich handelt es sich hier auch um eine uns seit 2015 von Pressefotos bekannte Flüchtlingsszene: ein völlig überfülltes winziges Schlauchboot erreicht den rettenden Strand von Kos – Flüchtlinge stranden und gelangen in die heile Welt der Touristenzentren. Hier prallen höchst unterschiedliche Lebenswelten aufeinander: Krieg und Frieden, Armut und Wohlstand, Lebensgefahr und Sicherheit. In dieser extremen Lage wissen sich die Touristen am Strand nur durch Ignoranz zu retten. Tatsächlich ist das auch eine sehr zwiespältige Situation für den gutsituierten Touristen. Ist es korrekt, wenn man etwa Griechenland als Gastgeberland gar nicht mehr besucht und damit letztendlich auch die wesentlichen Einnahmen des besonders strapazierten Landes schmälert? Um sich nicht mit den Tatsachen konfrontiert zu sehen? Aber Wegschauen, wenn man sich in unmittelbarer Nähe befindet? Die Diskrepanz zwischen den zwei Welten in der von Kutz gezeigten Situation sowie das Nichtbeachten von Menschen in Not sind sehr schwer erträglich.
Wieder vervielfacht Kutz die ihr wichtige Szene und zwingt damit den Betrachter einmal mehr genau hinzuschauen. Nebeneinander gereiht erscheinen die drei Einzelbilder zu einem langen Strand zusammengefügt, an dem drei Schlauchboote ankommen. Kutz macht nochmal deutlich: Solche problematischen Szenen haben nicht nur einmal oder dreimal stattgefunden. Sie sind vielfach an vielen Küsten Südeuropas geschehen.

Die aus afrikanischen Ländern stammenden Menschen befinden sich tatsächlich auf der Schiffsfahrt über das Mittelmeer. Sie liegen auf einem Schiffsboden. Ungeschützt und ausgeliefert. Es sind keine Individuen mehr sondern ein Haufen (Menschen), ihr aller Schicksal ist gleich. Und dieses geschieht immer wieder mit Hunderten und Tausenden Menschen bis heute, jahrelang. So erscheint die Multiplikation des Motivs auf Gaby Kutz‘ Ölgemälde als Analogie zu der unfassbar hohen Anzahl von Dramen, die sich in unserer heutigen modernen Zeit vor den Toren unserer europäischen zivilisierten Welt abspielen.
Die farbigen Fassungen sind unterlegt mit denselben gelbbräunlichen Tönen, die auch die ‚schwarzweiße‘ Variante aufweist. Hinzu kommen (starke) Blautöne für Jeansstoffe und leuchtend blutrote Farbtöne (- droht Gefahr? -). Dieses Kolorit zeigt die industriell hergestellten Farben einer modernen westlichen Textilproduktion. Die Menschen tragen nicht mehr ihre identitätsstiftenden traditionellen Stoffe aus Naturfarben, sondern die zum Teil schrill bunten Kleidungsstücke mit den Signalfarben, die erst durch eine Petrochemie-Industrie möglich sind.
Der augenscheinliche Wäscheberg benennt eines der Probleme des Verhältnisses von Industrienationen zu afrikanischen Entwicklungsländern: erstere vermarkten ihre Altkleider auf dem afrikanischen Kontinent, wo dort im Gegenzug die eigene traditionelle Stoffproduktion erheblich beeinträchtigt wird oder auch zum Erliegen kommt.
Unser Müll in Afrika – das sind nicht nur alte Stoffe – entzieht den Menschen dort die Arbeits- und Lebensgrundlage, und ohne Lebensgrundlage treibt es die Menschen vor Armut und Not in die Flucht. Letztendlich wird es für Afrikaner meist eine sehr gefährliche Flucht über das Mittelmeer – in Schlauchbooten oder auf Schiffsböden.
In der Kunstgeschichte gibt es seit jeher Darstellungen von Menschengewimmel. Beispiele sind etwa das mittelalterliche „Weltgericht“ von Stefan Lochner, das dichtgedrängte Getriebene zeigt oder auch die Bilder aus dem 17.Jahrhundert von Pieter Breughel d.J. mit ähnlich Zusammengetriebenen, Ausgelieferten und dem Untergang geweihten Menschen.
Solche menschlichen Dramen gab es zu allen Zeiten, darauf verweist die schwarzweiße Fassung. Sie lässt sogar auch an historische Fotos denken, nämlich an die schlimmsten verstörenden Bilder der Leichenberge der nationalsozialistischen Konzentrationslager Ende des 2. Weltkriegs.