Auszug aus der Eröffnungsrede der Ausstellung „reminiszenzen“

„Reminiszenzen“ -so lautet der Titel der Ausstellung mit Bildern der Malerin Gaby Kutz, die vorwiegend in den letzten Monaten entstanden sind. Das Wort Reminiszenzen leitet sich vom lateinischen reminisci – sich erinnern – ab. Reminiszenzen sind also Erinnerungen – Erinnerungen, die für jedermann von einer gewissen Bedeutsamkeit sind. Sie ermöglichen einen Rückgriff auf die Vergangenheit. 
Bei dem farbigen Ölgemälde „Fernblicke“ von 2014 schauen ein Mann und zwei Frauen, Ausflügler, allesamt im Profil, konzentriert in dieselbe Richtung, nach vorne. Sie betrachten etwas in der Landschaft. Worauf sie schauen, bleibt uns verborgen. Unweigerlich fragt man sich, was sie sehen und woran die Dargestellten gerade denken. Leicht projiziert man das eigene Ich in diese Situation hinein. Der Blick des Betrachters wird fast zwangsläufig auch im übertragenen Sinne auf die Vergangenheit und in die Zukunft gelenkt: Wie war das früher und wie wird es werden? Man darf verraten, dass es sich bei diesem Bild um ein Selbstbildnis der Künstlerin mit ihren Eltern handelt. Die Familie war 2006 im Hunsrück unterwegs.

„Historischer Demonstrationszug“ ist ein Aquarell mit Collage-Elementen. Kutz hat hier mehrere Friedens- und Freiheitskämpfer und Kämpfer für Demokratie aus verschiedenen Jahrhunderten collagenartig auf einem Blatt vereint: da sind Friedrich Hecker, der radikaldemokratische Revolutionär der Deutschen Revolution von 1848/49 – er ist an seiner Revolutionsuniform und dem sogenannten Heckerhut zu erkennen – so wie Joseph Beuys und Rudi Dutschke, die Ende der 1970er Jahre gemeinsam politisch aktiv waren. Hinter diesen bekannten historischen Persönlichkeiten der deutschen Geschichte windet sich eine Menschenkette, wie es sie bei den Demonstrationen der Friedensbewegung der 80er Jahre viele gab. Hier kann sich der unbekannte und ungenannte politisch Aktive der Friedensbewegung wiedererkennen. Ein auf dem Aquarell mehrfach dargestelltes Symbol für Freiheit und Demokratie ist die rote phrygische Mütze, die während der französischen Revolution von den Jakobinern getragen wurde. Die vielen Kämpfer und Demonstranten stehen hier also in der Tradition der Französischen Revolution. Übrigens ist das Aquarell nicht nur eine Collage in der Bildkonzeption, Gaby Kutz montierte auf das Papier auch kleine ausgeschnittene Passagen aus einem politischen Text.  „Sitzblockade I“, 2014 entstanden, ist im Wesentlichen in Grautönen gehalten, wobei die ockergelbe Grundierung immer wieder deutlich zum Vorschein kommt. Dieses Stilmittel ist typisch für Kutz‘ Arbeiten in Öl. Die „Sitzblockade“ zeigt eine Szene während der sogenannten „Prominentenblockade“ am 1. September 1983 in Mutlangen auf der Ostalb in Baden-Württemberg. 

Damals Anfang September 83 blockierten zahlreiche Demonstranten, darunter viele Prominente wie Günther Grass und Oscar Lafontaine, das US-Militärdepot in Mutlangen, um gegen die Stationierung von Pershing-Raketen zu protestieren. Hier auf dem Bild sieht man mit der dunklen Mütze Heinrich Böll neben seiner Frau Annemarie sitzen, davor „Grüne“-Prominenz: der ehemalige Bundeswehrgeneral Gert Bastian und das Gründungsmitglied der „Grünen“ Petra Kelly. Sie fotografiert mit einer Agfa Pocketkamera und trägt einen blumengeschmückten Stahlhelm zum Zeichen ihrer Antikriegshaltung.Anhand von Kutz Malerei kann man die Entwicklung der Amateurfotografie nachvollziehen: von den Schwarzweißfotos der 30er Jahre über die frühen Farbfotos der 70er mit ihren Fehlfarben bis hin zu den jüngeren Digitalfotos, die oftmals blitzschnell entstandene farbenfrohe Schnappschüsse sind.

Die Bilder macht uns auch noch einmal deutlich, wie sich die Fototechnik und die Fotokultur verändert haben. Heute sind die Papierfotos die Ausnahme, man betrachtet Fotos auf dem Bildschirm des Computers oder Smartphone. Durch die Digital- und Computertechnik entstandene Bilderflut geht die Bedeutung des einzelnen Fotos naturgemäß verloren.

Die Kunsthistorikerin Helga Schmengler wählte zur Eröffnung der Ausstellung „Reminiszenzen“ ein Zitat zum Thema Fotografie aus einem Gespräch mit dem Schriftsteller Walter Kempowski. Dieser interessierte sich bei Recherchen zu seinen Romanen über deutsche Nachkriegsschicksale besonders für Alltagszeugnisse, für Fotografie. Das Gespräch wurde 1982 in der Zeitschrift „Fotogeschichte“ publiziert mit dem Titel „Bewahren, was sonst verloren ginge“:

„Die Wirklichkeit entgleitet so rasend schnell, dass man sich nur an den Kopf greifen kann. Die Fotografie ist ein Mittel, diese Erscheinung sichtbar zu machen. Sie hält den flüchtigen Moment und verewigt; es ist eine Verdopplung des Lebens. Etwas, das uns entgleitet, wird dadurch aufbewahrt, es ist ein Abdruck dessen, was dahingleitet. Das ist so ähnlich wie bei den Fußspuren von Steinzeitmenschen, sie interessieren mich mehr als die aufgefundenen Gebisse oder Schulterknochen. Die Fußspur ist mehr. Es ist, als sei das gestern gewesen. Die Fotografie hält einerseits die Gegenwart fest und holt andererseits die Vergangenheit in die Gegenwart zurück. (…)“ (Fotogeschichte 2, 1982/6, S.78)
Gaby Kutz geht noch weiter als der Presse- oder Amateurfotograf und zeichnet einige ausgewählte Fotografien besonders aus: Indem sie sie zum Gegenstand ihrer Gemälde macht. Diese Auszeichnung scheint tatsächlich heute notwendiger denn je, wenn man einem Bild besondere Beachtung beimessen möchte, denn angesichts der durch die Digitaltechnik entstandene immense Bilderflut, bleibt in der Regel ein einzelnes – auch wenn besonderes – Foto unerkannt.